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Wie Periscope und Meerkat das Fernsehen auf den Kopf stellen. Oder eben doch (noch) nicht.

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Wie aktuell ist unser Medium noch? Wie nah sind wir an unseren Zuschauern? Wie gut ist unser Geschäftsmodell? Welchen Strömungen müssen wir folgen? Wo ergeben sich neue Chancen – oder auch Risiken? Diese und noch viele Fragen dieser Art mehr stellen sich Medienmanager und Journalisten aller Mediengattungen täglich. Mehrfach. Das sage ich aus eigener Erfahrung. Ich arbeite bei einem regionalen Fernsehsender, und natürlich beobachten wir bei RNF tagtäglich, was sich um uns herum tut.

Der Medienwandel schreitet voran, und wir begleiten ihn. Wir nehmen ihn nicht als Bedrohung wahr, sondern versuchen die für uns wichtigen Elemente herauszuziehen und uns evolutionär mit ihm zu entwickeln. Und ich möchte behaupten: Wir sind darin nicht so schlecht. Das RNF-Twitter-Account existiert seit 2008, die Facebook-Seite ebenso. Hinter den Kulissen probieren wir permanent neue Technologien und Dienste aus. Nicht alles schafft es ins Produktionsportfolio, und nicht alles lässt sich personell so umsetzen, wie wir es uns wünschen würden. Aber dranbleiben, abwägen, keinen wichtigen Zug verpassen – darauf kommt es schon an.

Seit einigen Wochen haben es mir die neuen Streaming-Dienste angetan. Meerkat und Periscope sind momentan die beliebtesten Spielzeuge der Journalisten-Szene. Kaum einer der innovativen KollegInnen in meiner Timeline, die nicht beide Dienste zumindest aktiviert und getestet hätten, um im Fall der Fälle sendebereit zu sein. Video-Streaming – da schauen wir als Fernsehleute naturgemäß besonders genau hin.

Grundsätzlich ist mobiles Videostreaming nichts Neues. Im Februar 2010 ging ich mit einem iPhone 3GS zum ersten Mal per Ustream so online, dass N24 die Bilder im Liveprogramm übernahm. Anlass war der Amokalarm an einer Ludwigshafener Berufsschule. Bei RNF hatten wir damals schon eine Brücke in die Broadcast-Welt gebaut, so dass das Signal über unsere Sendeabwicklung einfach weitergeschaltet werden konnte.

Jeder kann Livestream

Heute kann jeder Livestream. Zwar zumeist hochkant und damit nicht sehr TV-affin, aber sei’s drum. Streaming ist einfach, so einfach wie ein Foto zu posten, eine Einstiegshürde ist quasi nicht mehr vorhanden, damit ist es attraktiv. Jeder streamt, jeder ist ein Broadcaster. Ich auch, nebenbei. Den Vortrag von Astronaut Alexander Gerst in Speyer streamte ich per Periscope (Link zum „Warte-Video“ unmittelbar vor dem Vortrag). Am 25. April, ziemlich genau vier Wochen, nachdem Periscope unter der Flagge Twitters im Appstore erschienen war. Ich hatte fünf Zuschauer. Naja. Dabei sein. Alles testen. Nichts verpassen. Wie gesagt – darauf kommt’s an.

Am Samstag nun durfte man aufhorchen: Kurz vor der Halbzeitpause im Champions League-Finale Juve gegen Barca kündigte Béla Réthy einen Periscope-Livestream an: den „ZDF Halbzeit-Talk mit Boris Büchler“. Mit der URL zu @ZDFsport auf Twitter in einer eigenen Bauchbinde und allem Pipapo. Sehr prominent. Ein Zusatzkanal also abseits des eigentlichen Programms im TV. Perfekt für die Zielgruppe am „Second Screen“ (der für viele ja schon der „First Screen“ ist) auf der Couch.

Für viele User in meiner Timeline ist das der gewünschte Normalfall, schon nichts Besonderes mehr. Sie empfinden es als eher ungewöhnlich, dass überhaupt Menschen noch lineares Fernsehen konsumieren. Ein gestriges Medium. Dem Untergang geweiht. Heute schon eher tot als lebendig. Auf der re:publica 2015 verlor schon niemand mehr ein wahrnehmbares Wort über lineares Fernsehen. Abgehakt. Und ja – natürlich nehme ich (und mit mir viele andere Fernsehleute) diese Signale wahr. Wenn es nach uns ginge, würden wir sofort alle neuen Technologien einsetzen wollen, Zuschauer in unsere Programme einbinden, die Interaktivität fördern, gerade im Regionalen!

Magere Conversion-Rate

Aber machen die Zuschauer das mit? Erreichen wir sie damit? Wollen sie das? Brauchen sie das? Gieren sie nach dem Neuen? Schauen wir auf die Zahlen. Keine repräsentativen Zahlen, sondern auf die des Einzelfalls. Selten genug kommt man in den Genuss, sich eine Conversion-Rate vom TV ins Web anschauen zu können – im Fall des Champions League-Finales geht das. 9,72 Millionen Zuschauer hatte das ZDF während des Fußball-Spiels. Auf die prominent vorgetragene Ankündigung, sich einen Periscope-Livestream in der Halbzeitpause anschauen zu können, reagierten insgesamt 2.732 User – Live-Zuschauer und Zuschauer des Periscope-Playbacks zusammengenommen (Zeitpunkt des Abrufs: 15 Stunden nach Ende des Events). Das bedeutet: 0,028 Prozent der TV-Zuschauer des TV-Signals nahmen wirklich das Smartphone zur Hand, um sich das Zusatzangebot anzuschauen. Da ist noch Luft nach oben.

Man möge mich bitte nicht falsch verstehen: Es geht mir nicht darum, den Medienwandel klein zu reden. In diesem Verdacht stehe ausgerechnet ich nun ganz bestimmt nicht. Es ist wichtig, dass solche Szenarien ausprobiert werden. Um so besser, wenn das ZDF da unprätentiös voran geht. Aber die Rechnung zeigt, wie gering die Akzeptanz dieses neuen Angebots in der Breite noch ist. Obwohl das meinem subjektiven Gefühl so gar nicht entspricht, um ehrlich zu sein. In meiner Medien-Filterblase gibt es in diesen Tagen Ad-hoc-Streams ohne Ende. Man könnte meinen, Ü-Wagen und Satelliten-Verbindungen seien von morgen an überflüssig. Streams von Rock am Ring, vom Evangelischen Kirchentag, vom G7-Gipfel. In viele hab’ ich mich aus Interesse eingeklinkt, die meisten Streams hatten unter 100 Zusehern. Aber diese Streams wurden ja auch nicht prominent angekündigt. Der ZDF-Periscope-Stream zum Fußball-Spiel war eine Ausnahme: Knapp 10 Millionen Menschen erfuhren von dem Angebot im Netz – und doch nutzten es nur die allerwenigsten davon.

Mag sein, dass sich das in nicht allzu ferner Zukunft verändert, ich will das nicht ausschließen und werde die Entwicklung natürlich weiter beobachten. Aber heute, im Jahr 2015, dürfen wir nicht vergessen: Wir müssen – bei aller Faszination für das Neue – die Leute dort abholen, wo sie sind. Und wenn es am „alten“ Fernsehgerät ist.

Bild: Screenshot Periscope @ZDFsport