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Hirschberg: Kein Geld für die Gemeinschaftsschule – die Bildung bleibt auf der Strecke

Lesezeit: 615 Sekunden

Der Hirschberger Gemeinderat hat die Entscheidung über eine Gemeinschaftsschule im Ort an die Bürgerschaft abgetreten: Am 22. September sollen die Bürger darüber abstimmen, wie es mit der Bildung in Hirschberg-Leutershausen weitergeht. Was auf den ersten Blick wie demokratische Bürgerbeteiligung aussieht, ist in Wahrheit ein Armutszeugnis, das sich die Mandatsträger selbst ausstellen. Ein Kommentar.

Es ist zum Mäusemelken – gerade, wenn man sich etwas intensiver mit Bildung befasst wie ich es in den vergangenen Jahren getan habe. Die aktuelle Entscheidung des Gemeinderates hinterlässt mich kopfschüttelnd. Und ich will versuchen zu erklären, warum.

Von Berufs wegen höre ich insbesondere aus der Industrie immer lauter werdende Rufe, das Schulsystem müsse auf einen aktuellen Stand gebracht werden. Die Absolventen, die aus den Schulen kommen, halten den Anforderungen der Unternehmen kaum mehr stand, weil die Bildungsziele der Schule häufig an den Bedürfnissen der Praxis vorbeigehen. Die Zensuren im Abschlusszeugnis gelten vielen Arbeitgebern nicht mehr als alleiniges Bewertungskriterium eines Bewerbers, oder anders gesagt: Die Unternehmen sprechen den Schulen die Kompetenz ab, junge Leute richtig zu bewerten. Sie testen lieber selbst, wozu die Jugendlichen fähig sind; denn auf das Wissen, das die Schule vermittelt, kommt es immer weniger an. Wichtiger ist vielmehr, welches Potenzial in den Absolventen steckt.

Worum geht es in der Auseinandersetzung um die Gemeinschaftsschule in Hirschberg? Ein Beitrag bei RNF vom 17. Juli 2013 gibt in 2:17 Minuten einen Überblick.


(eingefügt 17.07.13, 19:45 Uhr)

Wenn man sich umschaut, dann versuchen Unternehmen in zahlreichen Initiativen den Lehrinstituten Starthilfe zu geben – sowohl in der Bewusstwerdung, warum ein reformiertes Bildungssystem wichtig ist, als auch in der konkreten Umsetzung zeitgemäßer pädagogischer Konzepte. Ich selbst hatte diesbezüglich intensiv Kontakt mit der Offensive Bildung der BASF sowie dem Netzwerk „Wissensfabrik„, in dem sich mehr als einhundert namhafte Unternehmen (u.a. Daimler, Bosch, BASF, TRUMPF, Bilfinger, Deutsche Bank, Continental) zusammengetan haben, um die Bildung an Kitas und Schulen zu unterstützen. In diesem Zusammenhang führte ich vor nicht allzu langer Zeit ein ausführliches Interview mit Prof. Gerald Hüther, der sich auf dem Gebiet zeitgemäßen Lernens in der Schule hervorgetan hat. Aus seinem Vortrag und dem Gespräch entstand eine einstündige Sondersendung bei RNF.

Das aktuelle Schulsystem funktioniert nicht mehr

Die Wirtschaft investiert eine Menge Geld in das Thema Bildung, weil sie auch in Zukunft auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig sein will. Das funktioniert nur, wenn bei einer immer weiter schrumpfenden Zahl an Kindern in Deutschland jedes Kind seinen spezifischen Neigungen und Begabungen entsprechend optimal gefördert wird. Und genau das ist etwas, das unser Bildungssystem zurzeit nicht zu leisten vermag. In der Regel werden die Schüler über einen Kamm geschoren – wer mit dem System gut zurecht kommt, schreibt gute Noten und kommt weiter. Wer sich in dem System nicht gut zurechtfindet, muss gucken wo er (oder sie) bleibt. Vielleicht 15 Prozent aller Kinder kommen mit dem System gut zurecht – die anderen fallen eben durchs Raster. Prof. Hüther beispielsweise vertritt die These, dass man jedes Kind gut zum Lernen motivieren kann, wenn man bei ihm den richtigen Hebel findet – dann funktioniere das Lernen fast von allein. Wobei man sich eben gedanklich davon lösen muss, dass „lernen“ immer das ist, was wir in der klassischen Schule unter lernen verstehen: Es geht für die Kinder darum eigene Erfahrungen zu machen, Dinge selbst zu erforschen, sich Wissen selbst anzueigenen, ihre Potenziale zu entdecken. Das Wort „selbst“ spielt dabei eine gewichtige Rolle. Dass es fast unmöglich ist, Kindern Wissen von außen nachhaltig einzutrichtern, hat Prof. Hüther in seinen neurobiologischen Forschungen nachgewiesen. Um die Potenziale bei Kindern zu heben, bedient sich die Wirtschaft heute des Fachwissens von Hirnforschern wie Prof. Hüther, und sie lässt sich das in der konkreten Umsetzung auch etwas kosten. Für die Zukunftsfähigkeit des Standorts Deutschland braucht es also einen völlig anderen Denkansatz beim Thema Bildung, einen neuen Typ Lehrer, neue pädagogische Rezepte; zeitgemäß, dem Jahr 2013 würdig. Die individuelle Beschäftigung mit den Schülern ist ein Kern all dieser Überlegungen, das Erspüren ihrer Erfordernisse und das Anwenden individueller Lehrmethoden.

Gemeinschaftsschule – ein zeitgemäßes pädagogisches Konzept

Ich habe diesen radikalen Wechsel in der Sicht auf den Schüler in der Vergangenheit schon gerne mal mit der rasanten Entwicklung in der Kommunikationstechnologie verglichen. Sie hat heute nichts mehr mit dem zu tun, was wir aus dem vergangenen Jahrhundert kennen. Wer heute einen Bürofachhandel auszustatten hätte, würde er sich elektrische Schreibmaschinen ins Schaufenster stellen oder Laptops, Tablets und Smartphones? Klare Sache, oder? Unsere Schulen und ihre Konzepte stammen indes noch aus der Zeit der elektrischen Schreibmaschine, Ende der achtziger Jahre. Dabei hat sich auch hier in Forschung und Entwicklung viel getan – es wurde nur nie flächendeckend umgesetzt. Die „neuen Produkte“ sind im öffentlichen Schulsystem nicht verfügbar.

Die Gemeinschaftsschule probiert es nun zumindest:

Die Gemeinschaftsschule ist eine leistungsstarke und sozial gerechte Schule, die alle Bildungsstandards anbietet und in der alle Schülerinnen und Schüler nach ihren individuellen Voraussetzungen lernen. Beispielhaft einige konkrete Punkte dazu:

• schülerzentrierte Unterrichtsmethoden
• Lerngruppen statt herkömmlicher Klassenverband
• individuelle Lern- und Förderpläne für alle Schülerinnen und Schüler
• Praktika in unterschiedlichen Lebensbereichen
• Lehrerinnen und Lehrer arbeiten im Team
• Leistungsmessung wird durch persönliche Beurteilungen ergänzt
• rhythmisierter, bewegter Schulalltag

(Quelle: FAQ zur Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg)

Natürlich ist alleine die Einführung der Gemeinschaftsschule kein Allheilmittel. Sie muss mit Geist, Leben und Engagement gefüllt werden. Das dürfte aber in der Veränderung leichter fallen als im bestehenden System.

Und nun also der Hirschberger Gemeinderat: Die Weiterentwicklung der Werkrealschule am Ort zu einer Gemeinschaftsschule sei zu teuer. Es sei ohnehin nur ein freiwilliges Projekt, dem stünden kommunale Pflichtaufgaben gegenüber, so der Bürgermeister. Um die Gemeinschaftsschule zu entwickeln müsse die Gemeinde Kredite aufnehmen. Die Rhein-Neckar-Zeitung dröselt die zu erwartenden Kosten auf:

Die Mehrausgaben liegen nach Berechnungen der Gemeinde bei etwa drei Millionen Euro, wobei 1,7 Millionen Euro auf die Gemeinschaftsschule (Anbau mit sechs Räumen am derzeitigen Schulpavillon) entfallen, während 1,3 Millionen Euro für die ohnehin notwendige Sanierung des Hauptgebäudes und des Pavillons fällig sind. Nach den zu erwartenden Landeszuschüssen müsste die Gemeinde etwa 2,7 Millionen Euro stemmen. Davon etwa 2,3 Millionen Euro auf Pump. Ein „Ja!“ zur neuen Schulform hat laut Just eine höhere Verschuldung, steigende Abgaben und den Verzicht auf andere freiwillige Aufgaben zur Folge. (Quelle: RNZ vom 17. Juli 2013)

Hirschberg: Kein Geld für Bildung

Es gab in der gestrigen Sitzung des Gemeinderates lange Debatten, eher sogar Scheindebatten, schreibt Hardy Prothmann auf dem Hirschbergblog, die am Ende darin mündeten, dass ein Bürgerentscheid darüber befinden soll, ob es eine Gemeinschaftsschule in Leutershausen gibt. „Politik kneift“, titelt Prothmann seinen Artikel und liegt damit genau richtig.

Für mich ist diese Entscheidung ein taktisches Manöver, um Zeit zu schinden und in der Hoffnung, dass sich schon nicht so viele Bürger als Befürworter einer Gemeinschaftsschule finden werden. „Am Geldbeutel kann man sie schon packen“, werden sich die Räte gesagt haben, „und wir sind am Ende fein raus, weil wir die Entscheidung ja den Bürgern selbst überlassen haben.“ So wird Bürgerbeteiligung zur Farce. Apropos Bürgerbeteiligung: Der Elternbeirat, der sich im übrigen einstimmig für eine Gemeinschaftsschule ausgesprochen hatte, wurde in dieser wichtigen Sitzung nicht zu einer Anhörung zugelassen, trotz eines entsprechenden Antrags der Grünen und obwohl die Geschäftsordnung diese Möglichkeit vorsieht. Und dann: Seit gut anderthalb Jahren laufen die Planungen und Vorbereitungen für eine Gemeinschaftsschule, der Rektor der Karl-Drais-Schule ging bis vor wenigen Tagen fest davon aus, dass der Antrag im Gemeinderat durchgewunken werde. Von Bürgerbeteiligung war da noch keine Rede. Die wird jetzt erst kurz vor knapp wie Kai aus der Kiste gelassen: Während der Sommerferien müssen die Befürworter der Gemeinschaftsschule nun trommeln, um eine Öffentlichkeit für ihre Belange zu schaffen. Sollte das tatsächlich gelingen, wird die Zeit immens knapp: Am 24. September könnte der Gemeinderat über die Ergebnisse des Bürgerentscheids befinden, doch bereits am 10. Oktober muss der Antrag auf eine Gemeinschaftsschule beim Kultusministerium vorliegen. Bleiben rund zwei Wochen – das ist nicht zu stemmen. Der Schule bleibt also keine andere Chance als auf Verdacht alle Unterlagen zusammen zu stellen und zu hoffen, dass der Bürgerentscheid ein positives Ergebnis bringen wird.

Kurzsichtiges Handeln in Hirschberg…

Was mich bei allem so sehr bestürzt, ist die Kurzsichtigkeit unserer Mandatsträger in ihrem Handeln. Nicht nur, dass sie in ihrer Entscheidung die gesellschaftliche Aufgabe eines reformierten Schulsystems komplett außen vor ließen (Weinheimer Nachrichten: „[…] Bewusst äußerte er [der Bürgermeister] sich nicht über das pädagogische Konzept. […]), sie malten sich auch nicht aus, was der Verzicht auf die Gemeinschaftsschule in letzter Konsequenz bedeutet: Die Werkrealschule wird aller Voraussicht nach nicht überleben, damit müssen die Kinder ab der 5. Klasse auf eine Schule außerhalb des Ortes. Das wird Auswirkungen auf die Vereinsstrukturen haben: Die Sportvereine am Ort werden Nachwuchsprobleme bekommen. Ohne Kinder in den Sportvereinen wird ein weiteres Projekt, das die Bürgerschaft sich dringend wünscht, eine dritte Sporthalle, möglicherweise obsolet. Junge Familien, also potenzielle Häuslebauer und Steuerzahler, werden sich nach Wohnorten umschauen, in denen sie eine bessere Infrastruktur mit Schule vorfinden. Sie werden sich damit im Zweifelsfall gegen Hirschberg entscheiden. Ohnehin ist unklar, ob die Grundschule überleben kann, wenn die weiterführende Schule nicht mehr besteht; dann lohnt sich das ganze Gebäude eventuell nicht mehr. Der Ort überaltert, blutet aus, bietet kein frisches Leben mehr.

…und anderswo Bürgermeister, die für ihre Schule kämpfen

Anderswo in Baden-Württemberg haben Bürgermeister kleinerer Ortschaften jetzt Klage beim Verwaltungsgericht Stuttgart eingereicht, weil sie vom Kultusministerium nicht als Standort für eine Gemeinschaftsschule berücksichtigt wurden:

Der Streit zeigt, wie wichtig gerade für kleine Gemeinden der Erhalt einer weiterführenden Schule ist. Rudi Kübler, Bürgermeister der 5500-Seelen-Gemeinde Kirchardt, sieht darin einen großen Standortvorteil. Der Verlust seiner Werkrealschule wäre ein gravierender Einschnitt. «Wir befürchten, dass sich junge Familien für andere Orte entscheiden.» Küblers Kollege aus Igersheim, Frank Menikheim, pflichtet bei: «Eine Schule bringt Leben in die Gemeinde.» Projekte mit der Wirtschaft, Teilnahme an Festen, Praktika in Altenheimen seien möglich, zählt der Rathauschef der Gemeinde mit fast 5700 Einwohnern auf. (Quelle: dpa, via rnf.de)

Argumente, die Hirschberg offensichtlich nicht anfechten. Ein starker Gemeinderat und ein starker Bürgermeister hätten die Potenziale gesehen, die die neue Schule mit sich bringt. Warum kämpfen andere Gemeinden mit Vehemenz für eine Gemeinschaftsschule, während sie in Hirschberg faktisch auf Eis gelegt wird? Auf Nachfrage sagte mir Kirchardts Bürgermeister Rudi Kübler heute, in Sachen Gemeinschaftsschule sei er „Überzeugungstäter“ – mit Überzeugung für das pädagogische Konzept und einem Gemeinderat, der einstimmig für die Gemeinschaftsschule gestimmt habe. Freilich habe er auch keine übermäßigen finanziellen Belastungen zu erwarten: „Wir brauchen da maximal ein paar neue Möbel.“ Allerdings habe die Gemeinde in den vergangenen Jahren die Birkenbachschule in Schuss gehalten, mehrfach saniert und erweitert. Seit dem Jahr 2000 gibt es hier einen Ganztagesschulbetrieb mit einer Mensa, „ideale Voraussetzungen für die Gemeinschaftsschule“. Diese Voraussetzungen zu schaffen, das seien aber schon Summen gewesen, „die in die Millionen gingen“. Kirchardt hat seine Hausaufgaben also in der Vergangenheit schon gemacht. Hirschberg nicht. Anstelle jetzt die Füße in die Hand zu nehmen und den Anschluss wieder zu finden, stellt die Gemeinde nun lieber den Schulstandort in toto zur Disposition. „Ich halte das Thema Gemeinschaftsschule nicht für einen Bürgerentscheid geeignet“, sagt Rudi Kübler, allerdings nicht ohne zu betonen, dass er sich nicht in die Angelegenheiten des Kollegen einmischen wolle. Es sei aber klar, dass die Gemeinschaftsschule mit ihrem pädagogischen Konzept ein sehr komplexes Thema sei, für das sich die Mehrheit der Bevölkerung wahrscheinlich nicht sehr interessiere: „Wenn die Kinder im Kindergarten sind, kümmern sich die Eltern um den Kindergarten; wenn sie dann in die Schule kommen um die Schule. Das ist aber ganz normal.“ Und vielleicht ganz im Sinne des Hirschberger Gemeinderats.

(Anmerkung: Ich lebe in Hirschberg und bin als Vater eines Grundschulkindes an der Karl-Drais-Schule von den Entwicklungen am Ort selbst betroffen.)