Lesezeit: 536 Sekunden
An diesem Wochenende läuft im RNF zum ersten Mal das „Extra“ zum Vortrag von Prof. Gerald Hüther im Feierabendhaus der BASF in Ludwigshafen. In dem Referat ging es im weitesten Sinn um frühkindliche Bildung. In einem ausführlichen Interview konnte ich das Thema darüber hinaus auf die Bildung von Jugendlichen in der Schule ausweiten.
Ich will in diesem Post nicht die Thesen von Prof. Hüther noch einmal niederschreiben. Um die Inhalte zu transportieren, sind die beiden Videos selbst am besten geeignet. Ich bin froh, dass wir die Chance hatten, Vortrag und Interview mehr als eine Stunde Sendezeit im Programm von RNF einzuräumen, weil ich glaube, dass nur so Gerald Hüthers Ideen für den Betrachter „rund“ werden. In TV-Beiträgen von ein paar Minuten und selbst in geschriebenen Artikeln bleiben zu viele Fragen offen. Erst aus den Antworten erwächst ein stimmiges Bild – und das braucht Zeit.
Video | DER VORTRAG (Laufzeit: 38:35 Minuten)
Video | DAS INTERVIEW (Laufzeit: 26:34 Minuten)
Diese Produktion lag mir ganz persönlich am Herzen. Warum? Ich beschäftige mich beruflich seit inzwischen mehr als acht Jahren mit modernen Konzepten zur Bildung, das hat sich so ergeben, wie so manches in meinem Job. Ich habe unheimlich viel aufgesogen, viele Vorträge gehört, Interesse entwickelt. Wenn ich damit auch keine abgeschlossene pädagogische Ausbildung habe, so habe ich doch eine Idee, was auf dem Bildungsmarkt gerade so passiert. Und ich bin – dann wieder in meiner Rolle als Vater – zuweilen bass erstaunt, wie wenig ich zuweilen mit Menschen, die meine Kinder ausbilden, darüber diskutieren kann. Es scheint, als sei bei manchen Lehrern der „alte“ Weg so eingefahren, dass sie ihren Gedanken nicht erlauben, über den Wall links und rechts ihrer Straße zu schauen, weil sie fürchten, in einer plötzlich größeren Welt die Orientierung zu verlieren. Ich sage ausdrücklich: Bei manchen. Eine Verallgemeinerung wäre unangebracht, denn natürlich habe ich nicht wenige Lehrerinnen und Lehrer kennengelernt, die sich mit Bildungskonzepten intensiv auseinandersetzen.
Persönliche Erfahrungen
Dennoch. Als ich in der Schule einmal gegenüber einer Lehrerin mit Gerald Hüthers Ansätzen argumentierte, schrieb sie mir, ich solle nicht jedem dahergelaufenen Hirnforscher Glauben schenken. Sie als gut ausgebildete Pädagogin wisse schon, was zu tun sei. Dass die Kinder ihren Unterricht unterdessen als langweilig empfanden, sich kaum wahrgenommen fühlten, in den Stunden unaufmerksam waren und die Klasse daher nicht wirklich voran kam, stimmte mich nachdenklich. Wie könnte man diese Frau dazu bringen, sich ein wenig zu öffnen und sich frischen Wind um die Nase wehen zu lassen? Vielleicht, indem man ihr ein Angebot machte. Ohne Druck, ohne Verpflichtung, ohne Wertung. Ohne, dass sie sich später rechtfertigen müsste. Sollte sie sich doch einfach mal unterhalten lassen, selbst Eindrücke sammeln, direkt von der Quelle, anonym, via Fernsehen. Ihre einzige Investition: eine Stunde Zeit. Deshalb diese Dokumentation. Sie kann eine Chance sein, den eigenen Horizont zu erweitern. Ein Urteil soll sich später jeder selbst bilden.
In einem Kommentar zu dem Vortrag habe ich gesagt, dass man von allem loslassen müsse, was man über Schule heutigen Zuschnitts weiß, um Gerald Hüther zu begreifen. Den Gedanken freien Lauf zu lassen, Visionen Raum zu geben – das ist die eigentliche Herausforderung, sowohl für Lehrer als auch für Eltern.
Immer wieder, so stelle ich fest, tun sich in der Diskussion um eine moderne Bildung Missverständnisse auf. Ein Beispiel – die Frage: Brauchen wir in der Schule Noten?
Diskussion um Schulnoten
Gerald Hüther sagt: Noten sind keine gute Einrichtung, weil Kinder unter Notendruck nur lernen, wie sie gute Noten schreiben. So lernen sie nicht, sich für den Stoff als solchen zu begeistern. Lehrer sollten die Kinder in einer Art und Weise anleiten, dass sie Begeisterung entwickeln und sich deswegen den Stoff selbst erarbeiten. Alles selbst Erarbeitete hafte im Gedächtnis nicht nur besser, sondern bringe die Jugendlichen auch methodisch schneller voran als alles unter Notendruck auswendig Gelernte. Wenn das so funktionieren würde, dann könne es am Ende – wenn gewünscht – auch Zensuren geben, aber die spielten dann maximal noch eine Nebenrolle. Eigentlich seien sie unnötig, weil das eigentliche Bildungsziel ohnedies schon erreicht sei. Das Kunststück sei, bei jedem Kind den richtigen Schlüssel zu finden, der das Tor zur Begeisterung öffne. Deshalb bezeichnet Hüther Lehrer auch als „Schatzsucher“, die den Schatz in jedem ihrer Schützlinge erst einmal finden müssten, bevor sich das Potenzial heben ließe.
Kritiker, mit denen ich auch gesprochen habe, sagen: Noten sind ein unabdingbares Bewertungskriterium. Der Druck komme spätestens in der Arbeitswelt ohnehin. Mit Noten in der Schule könnten sich die Kinder früh genug daran gewöhnen, das habe noch keinem geschadet. Und überhaupt sei Schule ohne Noten weichgespült. Wir lebten schließlich in einer Leistungsgesellschaft, da müsse es notgedrungen Konkurrenzkampf und Bewertung geben. Das stimmt möglicherweise in der Schule traditionellen Zuschnitts, aber nicht mehr in der Argumentation eines Gerald Hüther – weil hier von Grund auf alles anders ist.
Es scheint paradox: Den Kritikern erscheint Hüthers Weg zu soft, als dass solchermaßen ausgebildete Schüler in der Leistungsgesellschaft bestehen könnten. Aber Gerald Hüther hebt ja geradezu hervor, dass wir in einer Leistungsgesellschaft leben und dass wir unsere Kinder bestmöglich darauf vorbereiten müssen. Mehr noch: Unsere Gesellschaft ist dazu verdammt, brillante Köpfe hervorzubringen. Solche, die global bestehen. Bessere als bisher. Mehr als bisher. Darauf ist sein Bildungsmodell angelegt. Und wenn er recht hat, dann kommen diese besseren Leistungen und besseren Ergebnisse von alleine. Einfach nur, weil Bildung kindgerechter vonstatten geht. Weil die Kinder individueller betrachtet werden und Wertschätzung erfahren, verkürzt ausgedrückt. Im Video erklärt er es ausführlich. Wer könnte dagegen etwas haben?
Der Hintergrund ist klar: Der Wirtschaftsstandort Deutschland kann es sich nicht leisten, junge Erwachsene auf den Arbeitsmarkt zu entlassen, die nicht überdurchschnittlich gut ausgebildet sind. Jeder kennt die Diskussion um den demographischen Faktor und die Rohstoffarmut in Deutschland: Unser Wohlstand entsteht in den den Köpfen – und dafür braucht es bessere Bildungskonzepte als in der Vergangenheit. Denn die alten haben sich im internationalen Vergleich offensichtlich nicht bewährt.
Umwälzungen – auch in der Bildung?
Ich finde es fatal, wenn es Lehrer und Politiker gibt, die ausgerechnet im Bereich der Bildung den Fortschritt negieren und am liebsten am Status quo festhalten möchten. Die vergangenen zwanzig Jahre haben uns gravierende technologische Umwälzungen und damit ebenso revolutionäre Veränderungen in der Kommunikation gebracht. Sie müssten sich in der Bildung widerspiegeln. Flächendeckend.
Kinder des Jahres 2013 wachsen vollkommen anders auf als Kinder vor zwanzig Jahren, als das Internet bestenfalls in den Kinderschuhen steckte. Ich möchte sogar behaupten: Die Kinder von heute wissen mehr als unsereins in ihrem Alter – und sie wissen, wie sie sich Wissen beschaffen. Ganz intuitiv. Blöd nur: Das alles ist kein Wissen, das in den Bildungsplänen nach- und abgefragt wird. Dort hat sich im Grundsatz methodisch und inhaltlich seit Jahrzehnten nicht viel getan. Kinder von heute leben in einer Realität mit Computern, Smartphones, Tablets etc., doch die Schule holt sie dort nicht ab. Statt dessen sagte mir oben erwähnte Lehrerin, darauf angesprochen, ob sie den Kindern in ihrer Recherche zu bestimmten Themen methodisch unter die Arme greife: „Also, ich warne vor dem Internet.“ Und das meinte sie genau so, wie sie es sagte.
Kein Wunder, dass in einem solchen System viele Kinder keine Ankerpunkte für ihre Begeisterung mehr finden. Sie fallen erst auf – und dann durchs Raster. Schlechte Noten? Pech gehabt. Vereinzelt erkennen Lehrer, dass diese Schüler vielleicht nur ein bisschen anders angepackt werden müssen als vom System vorgesehen. Dann wandeln sie bereits auf Hüthers Spuren. Aber in den meisten Fällen auf eigene Verantwortung und sehr begrenzt – denn am Ende zählt doch nur das, was die Notenkonferenz fürs Zeugnis des Schülers absegnet. Dass der Schüler mehr Potenzial gehabt hätte, die Lehrerschaft aber nicht im Stande war es zu heben, findet keine Beachtung.
Gerald Hüther: Frischer Wind in der Bildungsdiskussion
Ich kann nicht abschließend beurteilen, ob Prof. Hüther über die Hirnforschung den goldenen Weg der Bildung gefunden hat. Aber seine Ideen zu hören, hat etwas wohltuend Erfrischendes. Sie zeigen, dass Bildung nicht auf ehernen Gesetzen beruht, sondern etwas vollkommen Dynamisches sein kann. Und dass es eine Forschung gibt, die neue, alltagstaugliche Erkenntnisse bringt. Seine Argumentation bringt eine Diskussion in Gang. Die Argumente zwingen jeden, der sie hört, sich mit Schule heutigen Zuschnitts auseinander zu setzen und sie kritisch zu überprüfen. Das ist immerhin ein Anfang.
Und es gibt noch einen Aspekt, der mich nachdenklich stimmt: Die Veranstaltung mit Prof. Hüther, die wir dokumentiert haben, wurde von der BASF finanziert (Die Produktion der Dokumentation hat RNF selbst getragen.). Sie fand im Rahmen der „Offensive Bildung“ statt, mit der das Unternehmen seit 2005 am Standort Ludwigshafen und in der Region Bildung fördert. Das tut es nicht sehr laut, nicht sehr PR-stark, dafür aber so, dass selbst Bildungsexperten sagen: „Das hat Hand und Fuß“. Die UNESCO hat die Schirmherrschaft für die Initiative übernommen – sicherlich ein Indiz für ihre Seriosität.
Die Industrie als Vorreiter
Nun mag man zu dem Chemiekonzern stehen, wie man will – was man ihm aber sicherlich nicht unterstellen kann, ist, dass er in den kommenden Jahren die Führungsposition in seiner Branche aufgeben möchte. Und dieses Unternehmen – das dafür bekannt ist strategisch zu denken – bucht eben einen Gerald Hüther für seine Fortbildungsveranstaltung vor hunderten Fachkräften aus Kindertagesstätten in seiner Region. Was nichts anderes bedeutet, als dass ein knallhart ökonomisch denkender und handelnder Konzern in den „weichen“ Methoden eines Gerald Hüther die Zukunft seines Erfolges sieht. Die Frage, wie die Kinder am Stammsitz ausgebildet werden, ist für BASF von entscheidendem Interesse. Bei aller Globalisierung und aller Diversity wird sie auch in Zukunft weite Teile ihrer Mitarbeiterschaft aus der Kernregion in und um Ludwigshafen herum rekrutieren müssen. In der Ausbildung des Nachwuchses aufs falsche Pferd zu setzen, könnte fundamentale Folgen für das Unternehmen haben. Man darf also davon ausgehen, dass es sich die Bildungsexperten, die es zu Rate zieht, genau angeschaut hat.
Wer heute ein Beharren auf traditionellen Schulformen oder eine schärfere Gangart in der Schule fordert, sollte sich diesen Gedanken mal durch den Kopf gehen lassen.
Sendezeiten des „RNF Spezial“ im Programm des Rhein-Neckar Fernsehens:
- Freitag, 29.03.2013, 18:30 Uhr
- Montag, 01.04.2013, 19:00 Uhr
- Samstag, 06.04.2013, 19:00 Uhr
- Donnerstag, 09.05.2013, 22:00 Uhr
- Montag, 20.05.2013, 22:00 Uhr
- Donnerstag, 30.05.2013, 19:00 Uhr